Noch etwas poetischer, aber ebenfalls recht eindeutig drückte es Friedrich Schiller aus, der 1796 seine Einschätzung der Wiener Bevölkerung in sicherer Entfernung zu Papier brachte: "Mich umwohnt mit glänzendem Aug’ das Volk der Phäaken, immer ist Sonntag, es dreht immer am Herd sich der Spieß." Und was der Satiriker Hans Jörgel von Speising 1852 über seine Landsleute sagte, lässt sich im Großen und Ganzen wohl auch heute noch unterschreiben: "Im Ausland haben’s ja eh die Vorstellung von Wien, dass da alleweil die Backhendln rumfliegen."
Das Nahverhältnis des Wieners zum leiblichen Wohl beginnt schon in seiner Sprache, am deutlichsten vielleicht in der Wendung, dass man jemanden "zum Fressen gern" hat. Die Wiener Fresslust findet sich auch in Aussprüchen wie "jemandem aus der Hand fressen" (= von jemandem bis zur Untertänigkeit abhängig sein), "I bin ang’speist“ (= Ich bin sauer), "Den kann i net verkiefeln" (= Den kann ich nicht ausstehen), „Die Sitzung ziagt sich wia a Strudltag“ (= Die Sitzung ist endlos langweilig) oder "Das ist mir völlig Powidl" (= Das ist mir gleichgültig) wieder. Wie stark das Kulinarische im Wienerischen verankert ist, beweist schließlich auch der hier entstandene Ausdruck des "Häferl-gukkers" (= Topfbeschauer), der für alle lästigen Küchenkiebitze vom hungrigen Ehemann bis zum gestrengen Herrn Lebensmittelinspektor verwendet wird.
Dass Wien im Laufe seiner Geschichte zu einem solchen Schlaraffenland avancieren konnte, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Metropole bis heute in ihrem Kern- und Umland wie kaum eine andere Weltstadt eine funktionierende landwirtschaftliche Struktur aufweist. So ist es z.B. weitgehend unbekannt, dass in Wien noch fast zweitausend Bauernhöfe existieren, von denen 83 auch Vieh, darunter 1.452 Schweine, 1.640 Legehennen, 253 Schafe, 71 Enten und 22 Ziegen halten. Da der landwirtschaftliche Anteil am Wiener Stadtgebiet früher noch wesentlich größer war und die Wiener Märkte besonders aus dem Weinviertel und Marchfeld mit einer Vielfalt von ländlichen Produkten versorgt wurden, hat sich das kulinarische Wien nicht nur fremde Gerichte einverleibt, sondern auch solche hervorgebracht, die durchaus als "bodenständig" eingestuft werden können.
So ist beispielsweise die Wiener Rindfleischküche allein schon aufgrund der weltweit einzigartigen Wiener Rindfleischteilung so unverwechselbar, dass man ihr Unrecht täte, würde man sie nur als weitschichtigen Bollito-Misto-Verwandten einstufen.
Auch die Kultur der Suppeneinlagen wie Frittaten, Kaiserschöberln, Leberknödel, Grießnockerln, Nudeln, Fleischstrudel oder Markknödel - um nur die wichtigsten zu nennen - ist nicht importiert, sondern im wahrsten Sinn des Wortes hausgemacht.
Eng verwandt mit der Rindfleischküche ist die Wiener Rostbratenküche, der wir zahlreiche Kochbuch-Klassiker wie den Zwiebel- und den Vanillerostbraten, aber etwa auch die klassischen gefüllten Rindsrouladen verdanken.
Nicht mehr ganz so unverwechselbar wienerisch, wenngleich dennoch eigenständig sind die von den Ungarn inspirierten Wiener Gulyás-Ableitungen, hier auch "Saftgulasch" genannt, sowie die italienisch beeinflussten, aber doch weitab von jeder Art von Pasta angesiedelten Wiener Teigwarengerichte wie Krautfleckerln, Grenadiermarsch oder Schinkenfleckerln - vor allem in ihrer überbackenen Variante.
Ähnliches gilt für die Wiener Art, mit Reis umzugehen, bei der entweder die Serben (Reisfleisch) oder die Norditaliener (Risipisi) Pate gestanden haben.
Last but not least wurde auch die Kunst des Panierens mit Sicherheit nicht in Wien erfunden. Dennoch sind Wiener Schnitzel und Backhendln längst ebensolche Wahrzeichen der Stadt wie Steffl und Riesenrad. Gewiss kein Copyright hat Wien auch auf seine viel gerühmte Mehlspeisküche, deren bekannteste Vertreter fast durchwegs auf türkisch-ungarische (Strudel, Palatschinke), böhmische (Powidltatschkerl, Buchtel) oder venezianische (Faschingskrapfen) Vorbilder zurückreichen.
Ihren Ruf, die beste Mehlspeisküche der Welt zu sein, trägt die Wienerstadt dennoch mit Recht: In welcher anderen Stadt könnte man sich vorstellen, dass - wie es bei der Sachertorte der Fall war - jahrelang um ein Mehlspeisrezept prozessiert wird?